Willkommen

„Jede Mundart ist Volksmundart, heimlich und sicher, aber auch unbeholfen und unedel, dem bequemen Hauskleid, in welchem nicht ausgegangen wird, ähnlich. Im grunde sträubt sich die schämige Mundart wider das rauschende Papier, wird aber etwas in ihr aufgeschrieben, so kann es durch treuherzige Unschuld gefallen.“
Joseph Kehrein, Volkssprache und Wörterbuch von Nassau, Zitat aus dem Vorwort

Nit nur für Haargeloffene!



Reichen die Wurzeln der Heimatsprache, wie Hedwig Witte in einem Gedicht sagt, immer noch „dief in de Boddem“ wie Rebwurzeln? Wir haben inzwischen von den Geisenheimer Forschern gelernt, dass die Rebe da, wo sie ausreichend Wasser in Oberflächennähe findet, gar nicht so tief wurzelt. Was die Sprache angeht beobachten wir, dass immer weniger Menschen im Rheingau von Klein auf das sprechen lernen, was wir Mundart nennen - auf gut Griechisch „diálektos“ - von légein „sprechen“ und día „auseinander, anders". Unsere Kinder lernen die Mundart bei der Fassenacht und bei den „Schlappmäulcher“ unseres Mundartvereins wie eine Fremdsprache. Die Vielen, die im Rheingau vorübergehend oder dauerhaft „zuziehen“ sind mit eigenen Mundarten, mit der Hochsprache oder mit einer anderen Muttersprache als Deutsch aufgewachsen. Sprache ist etwas Lebendiges. Sie entwickelt sich weiter mit denen, die sie sprechen. Wie viele Sprachen sind mit den Sprecherinnen und Sprechern ausgestorben!

Droht das auch unserem Dialekt?

Der Rheingauer Mundartverein kann sich über mangelnden Zulauf bei seinen Theateraufführungen jedenfalls nicht beklagen. Ulrike Neradt und ihr Team sind nicht nur bei der zur guten Tradition gewordenen Mundart-Matinée in Kiedrich aktiv. Mundartbücher3 mit Gedichten, Liedern und Texten - einschließlich mundartlichen Versionen von Bibeltexten - kommen gut an. Wo immer Rezitationen angeboten werden, stoßen sie auf Interesse.

Vielleicht sind es ja gerade die Anforderungen an Mobilität und die Nivellierung der Alltagskultur in den Medien, welche Menschen nach Wurzeln und Heimat suchen lassen. Zu den Elementen, die uns Identität und Gemeinschaft erlebbar machen, gehört sicher auch die Sprache.

Erleben wir eine "Renaissance" der Mundarten?

Jedenfalls kann der Schreiber dieser Zeilen in seinem alltäglichen Rheingauer Umfeld problemlos Mundart sprechen und genießt es sehr. Macht das die Kommunikation besser oder leichter? Aber sicher! Warum? - Mundart signalisiert Vertrautheit und Gemeinschaft und baut gesellschaftliche und persönliche Hürden ab (Gude, ei wie dann?)- Mundart ist tendenziell Hierarchien und falschen Autoritäten feind, ihr Repertoire an spöttisch-ironischen Etiketten für "Aagebber" ist umfangreich (Hochsaascher, Strunzbichs, Herrschaftsbosse, mach halblang, Gasseglänzer)- Mundart hat viele Schimpfwörter, die nicht wirklich böse gemeint sind, dem oder der Sprechenden jedoch erlauben, "Dampf abzulassen" (babbisch Gutsje, Dabbes, Schlabbefligger, Babbsack)- Mundart hilft Dinge direkt und einfach zu sagen, die in der Hochsprache nicht oder nur mit mehr Wörtern zu sagen sind (Dubbeskass, laudern, Noggeler, Peifededeggel! Loss(es) dotze!)- Mundart bietet eine große Zahl von bildkräftigen, oft deftigen Wörtern und Redensarten, die "ansprechend" daherkommen, also neben dem Intellekt auch das Herz erreichen sollen und können (Kubbertutt, Laisknigger, Voll-Eil, ich hab sovill ze duhn wie die Pann an Fassenacht, des sinn doch Ferz met Krigge)- Mundart bewahrt viele Wortgeschichten in sich, die die Hochsprache längst vergaß oder nie aufgenommen hat - vom Althochdeutschen (Ank, Atzel) und Lateinischen (Lach), über das Jiddische (Zores, Dalles) bis zu Wörtern, die mit den französischen Besatzern kamen und dann in angepasster Aussprache blieben (Blimmo, Schees, Kannebee)Wenn Mundart bei Vielen wieder "in" ist - warum dann ein Wörterbuch zusammenstellen, warum eines kaufen, warum es gar lesen oder benutzen? Die Schriftform kann festhalten was uns überkommen ist und was wir selbst sprechen - sie kann also bewahren, was ist und was war. Lebendig bleibt die Heimatsprache nur, wenn sie auch gesprochen wird. Dafür ist ein Wörterbuch wie das vorliegende kein hinreichendes, aber ein notwendiges Instrument.

Wörterbuch?

Was Peter-Michael Eulberg da erarbeitet hat ist durchaus mehr. Am Anfang widmet der Autor einige Seiten der Herkunft, der sprachräumlichen Einordnung und der Schreibweise unserer Mundart; nach dem Verzeichnis der Dialektwörter folgen Hinweise zur Aussprache und Grammatik. Jedes Wort ist, wo nötig, mit Hinweisen zur Aussprache versehen, wo möglich mit Angaben zur Herkunft und zu Wortverwandtschaften, mit Aussagen darüber, wo man das Wort verwendet und welche Untertöne mitschwingen, wenn man es sagt oder hört.

Natürlich ist Peter-Michael nicht der erste, der sich mit diesen Fragen beschäftigt. Da ist der Klassiker, das Nassauische Wörterbuch von Kehrein, das einen "Nachbardialekt" mit zahlreichen Verwandtschaften zu dem unseren weiträumig erschließt. Vergleichbare Werke gibt es zu anderen benachbarten Dialekten, so wie das Mainzer Wörterbuch von Karl Schramm und Sammlungen dialektaler Wörter und Redensarten aus Rheinhessen. Sie wie die Werke von Hedwig Witte, deren Verdienst es ist, unsere Mundart ins Bewusstsein gerückt und literarisch gepflegt zu haben, finden sich in der Literaturliste des vorliegenden Buches. Sie nennt auch das 1997 von Herbert Michel vorgelegte Wörterbuch, das erstmals nach Hedwig Witte typische Wörter und Redensarten sammelte und sie meist durch treffende Beispielsätze im Kontext ergänzte - eine sehr verdienstvolle Arbeit, die sichtlich davon profitiert, dass der Verfasser in unserer Heimatsprache lebt. In ihr aufgewachsen und täglich zugange ist auch der Autor von "Aach Gude - Rheingauer Wörterbuch", dem man die Liebe zum Detail ebenso anmerkt wie die Freude an Zusammenhängen.

Uffgebasst:

Das Buch ist nicht nur etwas für "Haargeloffene". Auch wer glaubt, unsere Mundart zu beherrschen, kann bei der Lektüre dazulernen. Das von Peter-Michael erarbeitete Wörterbuch ist noch deutlich umfassender als seine Rheingauer Vorgänger und hat das Zeug dazu, zum Standardwerk zu werden, das - darf ich das sagen? - hoffentlich in zukünftigen Wiederauflagen durch weitere Forschungen des Autors und Hinweise fleißiger Leserinnen und Leser "fortgeschrieben" werden kann.

Johannisberg, im Januar 2012

Leo Gros